Bundesarbeitsgericht vom 11. April 2019 – 4 AZR 119/17
Seit längerer Zeit wird die Frage kontrovers diskutiert, unter welchen Voraussetzungen arbeitsvertragliche Regelungen durch eine nachfolgende Betriebsvereinbarung verändert (insb. verschlechtert) werden können. Eine Entscheidung des 4. Senats des Bundesarbeitsgerichts (Urt. v. 11.04.2018 – 4 AZR 119/17) lässt eine kritischere Einstellung zu dem Thema erkennen als sie der 1. Senat bisher in seiner Rechtsprechung zeigte.
In dem entschiedenen Fall hatten Arbeitgeber und Arbeitnehmer zunächst im Jahr 1992 die Anwendung des BAT (jetzt TVöD/TV-L) arbeitsvertraglich vereinbart (sog. tarifliche Bezugnahmeklausel). Der Arbeitsvertrag enthielt keine ausdrückliche Regelung, nach der sein Inhalt auch durch zukünftige Betriebsvereinbarungen verändert werden könne. Arbeitgeber und Betriebsrat schlossen sodann im Jahr 1993 eine Betriebsvereinbarung ab, die eine gegenüber dem BAT abweichende Vergütung des Arbeitnehmers vorsah. Im Nachgang zu dem Inkrafttreten der Betriebsvereinbarung sendete der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer ein Schreiben zu, in dem er die wesentlichen Inhalte der Betriebsvereinbarung zusammenfasste und den Arbeitnehmer bat, zum Zeichen seines Einverständnisses gegenzuzeichnen. Der Arbeitnehmer kam dieser Bitte nach.
Nach Kündigung der Betriebsvereinbarung und des damit verbundenen Endes ihrer Geltung (die Nachwirkung war ausgeschlossen) begehrte der Arbeitnehmer die ursprünglich vereinbarte Vergütung nach dem – inzwischen deutlich besseren – TVöD (hilfsweise TV-L). Der Arbeitgeber wollte jedoch weiterhin nur die geringere Vergütung auf Grundlage der Betriebsvereinbarung und des hierzu im Nachgang versendeten Schreibens zahlen, das der Arbeitnehmer gegengezeichnet hatte.
Dem Schreiben im Nachgang zu dem Inkrafttreten der Betriebsvereinbarung, das der Arbeitnehmer gegenzeichnete, sprach das BAG Regelungscharakter ab. Es habe lediglich Informationscharakter. Die Betriebsvereinbarung aus dem Jahr 1993, die inzwischen keine Wirkung mehr entfalte, habe die im Jahr 1992 in dem Arbeitsvertrag enthaltene Regelung über die Anwendung von Tarifverträgen zudem nicht ablösen können. Der Arbeitsvertrag sei nicht betriebsvereinbarungsoffen ausgestaltet.
Unter Betriebsvereinbarungsoffenheit versteht man die Möglichkeit, arbeitsvertragliche Abreden durch nachfolgende Regelungen einer Betriebsvereinbarung zu ändern, u.U. damit auch zu verschlechtern. Das BAG äußerte sich im Wesentlichen wie folgt hierzu:
Der 1. Senat des BAG ging bisher davon aus, dass eine konkludente Vereinbarung von Arbeitgeber und Arbeitnehmer über die Betriebsvereinbarungsoffenheit regelmäßig anzunehmen sei, wenn der jeweilige Vertragsgegenstand in AGB enthalten ist und damit einen kollektiven Bezug hat. Mit der Verwendung von AGB mache der Arbeitgeber für den Arbeitnehmer erkennbar deutlich, dass im Betrieb einheitliche Vertragsbedingungen gelten sollen.
Insgesamt ist der 4. Senat des BAG mit seiner Entscheidung deutlich zurückhaltender bei der Annahme einer konkludenten Betriebsvereinbarungsoffenheit. Für eine „Interpretation“ von AGB als betriebsvereinbarungsoffene Regelungen bestünden in der Regel keine Anhaltspunkte. Selbst wenn man eine konkludent „vereinbarte“ Betriebsvereinbarungsoffenheit annehmen würde, müsste diese Regelung nach dem AGB-Recht wirksam sein. Dies sei kritisch zu sehen mit Blick auf die Unklarheitenregelung (§ 305 c Abs. 2 BGB), das Verbot überraschender Klauseln (§ 305 c Abs. 1 BGB) und der Transparenzkontrolle (§ 307 Abs. 1 S. 2 BGB).
Ein wichtiger Anwendungsfall der Betriebsvereinbarungsoffenheit ergibt sich in Bezug auf Vergütungsbestandteile, aber auch bei Betriebs(teil)übergängen, da Erwerber in der Regel ein erhebliches Interesse haben, die Arbeitsbedingungen der übergehenden Arbeitnehmer mit denen ihrer bisherigen Arbeitnehmer zu harmonisieren.
Mit der Entscheidung vom 11. April 2018 (4 AZR 119/17) hat sich der 4. Senat des BAG gegen die Möglichkeit gestellt, dass durch eine konkludent vereinbarte Betriebsvereinbarungsoffenheit die arbeitsvertraglichen Regelungen abgelöst werden können. Der 1. Senat des BAG sieht dies anders.
Solange es keine einheitliche Linie des Bundesarbeitsgerichts gibt, in welchen Fällen eine konkludente Vereinbarung von Betriebsvereinbarungsoffenheit vorliegt, sollte in einem Arbeitsvertrag die Betriebsvereinbarungsoffenheit der Arbeitsbedingungen ausdrücklich geregelt werden. Besonders sorgfältig müssen dabei die sich aus dem AGB-Recht ergebenden Anforderungen beachtet werden.
Werden Arbeitsbedingungen in einer Betriebsvereinbarung abweichend von Individualarbeitsverträgen geregelt, können die geänderten Arbeitsbedingungen in jedem Fall aber durch einen entsprechenden Änderungsvertrag in das Arbeitsverhältnis einbezogen werden. Das ist der rechtssicherste Weg, wenn es an einer ausdrücklichen Regelung zur Betriebsvereinbarungsoffenheit fehlt.
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